HT 2021: Deutung von Grenzen – Grenzen der Deutung: Der Umgang mit herrschaftlichen Transformationsphasen im mittelalterlichen Europa

HT 2021: Deutung von Grenzen – Grenzen der Deutung: Der Umgang mit herrschaftlichen Transformationsphasen im mittelalterlichen Europa

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Cynthia Beatrice Stöckle, Abteilung Mittelalterliche Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Sobald ein Herrschaftsgebiet von tiefgreifendem Wandel erfasst wird, müssen in mittelalterlicher wie heutiger Zeit vor allem Grenzen neu definiert und abgesteckt werden. Dies kann auf diplomatische oder militärische Weise und zudem im Inneren und Äußeren eines Reiches geschehen. In der vergleichenden Sektion standen die Dynamiken eben solcher politischer Transformationsphasen im Zentrum, die anhand von vier mittelalterlichen Fallbeispielen diskutiert wurden.

SANDRA SCHIEWECK (München) betrachtete in ihrer Fallstudie die iberische Halbinsel zu Beginn der Trastámara-Herrschaft in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. In einem ersten Teil erörterte sie die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Peter I. von Kastilien (1334–1369) und seinem Halbbruder Heinrich II. von Trastámara (1334–1379) und den schließlich vollzogenen Machtwechsel zugunsten Heinrichs. Am Beispiel des Chronisten Pero López de Ayala (1332–1407) und seinem Werk zeigte sie, auf welche Weise eine paradigmatische und diskursive Deutung eines Dynastiewechsel vorgenommen werden konnte. Ayala stand zu Beginn der Auseinandersetzungen zwar auf der Seite Peter I., wechselte im Laufe der Jahre jedoch ins Lager Heinrich II. Nach seiner Selbstproklamierung zum König 1366 erteilte Heinrich II. Ayala den Auftrag, eine Geschichte über die eigene Herrschaft und die seines Vorgängers Peter I. zu verfassen. Die Crónica del rey don Pedro y del rey don Enrique, su hermano, hijos de Alfonso Onceno, die daraufhin entstand, gilt als historiographisches Hauptwerk Ayalas. In dieser Chronik propagiert Ayala die Rechtmäßigkeit der heinrichschen Herrschaft und diskreditiert im Zuge dessen den Widersacher Peter I. als unritterlich und kriegswütig. Die Beschreibungen Ayalas resultierten schließlich im Beinamen Peter I.: der Schreckliche.

Das Agieren der neuen Trastámara-Herrschaft an den Grenzen zu Aragon und dem Naṣridenemirat betrachtete Sandra Schieweck aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Anhand von Verträgen, die in dieser Zeit geschlossen wurden, lässt sich eine selektive Zuteilung einzelner Territorien beobachten. Man orientierte sich zudem bei der Grenzziehung an naturräumlichen Begebenheiten der Region. Gerade am Beispiel des Vertrags von Almazán (1375), der die mehrjährige kriegerische Auseinandersetzung zwischen Kastilien und Aragon beendete, werden die monarchischen Bemühungen um eine schriftliche Regelung der Grenzen besonders deutlich.

JUDIT MAJOROSSY (Wien / Budapest) beschäftigte sich mit dem alltäglichen Leben in der westlichen Grenzregion des mittelalterlichen Königreichs Ungarn. Das Königreich befand sich Ende des 14. Jahrhunderts, ähnlich wie das Beispiel der Iberischen Halbinsel, in einer Art Umbruchsphase. Die Dynastie der Luxemburger, die bis ins 15. Jahrhundert den König Ungarns stellte, endete mit dem Tod Sigismunds (geb. 1368) im Jahr 1437. Erst im Jahr 1458 bestieg Matthias Corvinus (1443–1490), Vertreter der Hunyadi Familie, den Königsthron. Ihm gelang es, das Königreich Ungarn und seine Wirtschaft zumindest vorübergehend zu stabilisieren. Am Beispiel von Pressburg und Wien machte Judit Majorossy deutlich, dass geographische Trennungslinien gerade im Alltag der Menschen vor Ort oft permeable Eigenschaften aufwiesen. Administrative Quellen aus der Stadt Pressburg zeigen, dass es vor allem in den Bereichen der Kommunikation, der kulturellen Einflüsse oder auch des Grundeigentums möglich war, einen Austausch zwischen den eigenen Stadtgrenzen zu erreichen. Dieses Phänomen zeigt sich beispielhaft in der Herkunft städtischer Eliten. Ein typisches Patriarchat, wie es für andere mittelalterliche Städte belegt ist, war beispielsweise in Pressburg nicht gegeben, sodass auch für neuere Familien die Möglichkeit bestand, an der städtischen Führung teilzuhaben. Dass auch im Verlauf einer militärischen Karriere ein Übertritt der Grenze möglich war, zeigte Judit Majorossy exemplarisch an Andreas Baumkircher. Er diente zunächst Kaiser Friedrich III. auf österreichischer Seite, wechselte jedoch in den späten 1460er-Jahren das Lager und unterstützte Matthias Corvinus und den steirischen Adel in einem Aufstand gegen den Kaiser. Baumkirchners Ansehen schadete das Überqueren der Grenze nicht.

WOLF ZÖLLER (Heidelberg) legte den Fokus seines Vortrags auf die Deutung und Legitimation der Eroberung Jerusalems im Jahr 1099. Die Herrschaftsübernahme der Kreuzfahrer im Heiligen Land wurde von den Zeitgenossen konträr bewertet – entweder sehr positiv oder sehr negativ. In der auf das Ereignis folgenden Explosion des Schriftwesens zeigt sich darüber hinaus die Implementierung einer neuen Herrschaftsordnung. Vor allem klerikale Akteure versuchten, das neu gegründete Königreich Jerusalem zu legitimieren. Um dem entstandenen Herrschaftsgebiet der Lateiner Stabilität zu geben, etablierte man typisch katholische Kirchenstrukturen des Westens im Heiligen Land. Die Lateiner bemühten sich zunächst, mehr Bewohner für Jerusalem zu gewinnen. Paschalis II. (1050/1055–1118) rief in Reaktion darauf im Jahr 1101 zu einem erneuten Kreuzzug auf. Anhänger des östlichen Christentums und anderer Glaubensgemeinschaften siedelten nach und nach in Jerusalem, sodass ein Mit- und Gegeneinander christlicher, jüdischer und muslimischer Gruppen bald alltäglich wurde. Historiographisch deuteten vor allem Abt Guibert von Nogent (1055–1125) und Abt Balderich von Bourgueil (1050–1130) die Eroberungen prochristlich und verknüpften ihre Ausführungen mit einer Weltanschauung des teleologischen Sieges der Christenheit. In den Ausdeutungsprozessen der lateinischen Herrschaft spielten laut Wolf Zöller Zentralorte, wie beispielsweise die Grabeskirche im Jerusalem, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die durch die Belagerungen schwer beschädigte Kirche wurde von den Lateinern umgestaltet wieder aufgebaut. Man versammelte die wichtigsten Heiligtümer des christlichen Glaubens unter einem Dach, und sandte damit auch ein steinernes Manifest der eigenen Legitimation, nach der man Gott befreit habe. Liturgisch folgte man dem lateinischen Ritus mit Einflüssen aus Frankreich und der Augustiner. Vor allem die Feier des Osterfestes wurde aufgewertet, indem das Osterfeuer an Bedeutung gewann und Auferstehungsgottesdienste eingeführt wurden.

Den Abschluss der Sektion bildete CHRISTIAN NEUMANN (Rom) mit seinen Ausführungen zu den Reintegrationen des mallorquinischen Königreichs. Nach dem Tod Jakob I., dem Eroberer (1208–1276), spitzten sich die Streitigkeiten zwischen seinen Söhnen Peter III. von Aragon (1240–1285) und Jakob II. von Mallorca (1243–1311) immer weiter zu. Peter III. war dem Vater, gemäß dessen Wunsch, in den Gebieten Aragon, Katalonien und Valencia als Erbe gefolgt, während das Königreich Mallorca, bestehend aus den Balearen sowie einiger französischer Besitzungen, an Jakob II. fielen. Diese Aufteilung des väterlichen Königreichs war vor allem Peter III. ein Dorn im Auge. Jakob II. aber wollte die Abgrenzung zur Krone Aragons keinesfalls freiwillig aufgeben, sodass er zunächst die Tributzahlungen an Peter III. verweigerte. Die angespannte Lage fand einen ersten Kulminationspunkt im Vertrag von Perpignan 1279, in welchem dem König von Aragon die politische und wirtschaftliche Kontrolle über das Königreich Mallorca zugesprochen wurde. Peter III. dürften, Christian Neumann zufolge, neben innenpolitischen Motiven vor allem wirtschaftliche Interessen motiviert haben. Die Balearen wurden von einem Handelspatriziat dominiert und die Inseln galten als ideales Sprungbrett für mögliche Expansionen. Die mallorquinische Wirtschaftskraft war zu diesem Zeitpunkt zudem in der Lage, den Rivalen Barcelona in ökonomischer Hinsicht unter Druck zu setzen. Jakob II. versuchte sich 1283 von der Bevormundung seines Bruders zu lösen, indem er sich nach dessen Exkommunikation mit dem französischen König Phillip III. von Frankreich (1245–1285) zum Kreuzzug gegen Aragon zusammenschloss. Der Kreuzzug scheiterte allerdings im Jahr 1285 und Peter III. annektierte in der Folge die Grafschaft Roussillon und die Balearen. Im Zeitraum zwischen 1285 und 1298 wurde das mallorquinische Königreich so in das Gebiet der Krone Aragons „reintegriert“. Die durch die geographische Beschaffenheit des heterogenen Königreichs bereits erschwerte Bildung einer eigenen Einheit und Identität wurde durch die Reintegration zusätzlich gestört. Als einen diplomatischen Versuch, um die Gewalt des Aragonesischen Kreuzzugs zu beenden, stellte Christian Neumann den Vertrag von Tarascon 1291 vor, der im Vertrag von Anagni im Jahr 1295 resultierte. Unter Vermittlung der jeweiligen Päpste in Rom aber entgegen dem Wunsch der aragonesischen Könige wurden dem Königreich Mallorca 1295 seine alten Grenzen zurückgegeben und es wurde Jakob II. von Mallorca erneut zugesprochen. Nach schwierigen finanziellen Jahren endete die zweite eigenständige Phase des mallorquinischen Königreichs allerdings mit der Invasion Peter IV. von Aragon (1319–1387) in den 1340er-Jahren. Sie war Teil der neu lancierten territorialen Expansionspolitik des aragonesischen Königs. Das sowieso schon geschwächte Königreich Mallorca verlor seine Unabhängigkeit und wurde ab dem Jahr 1343 erneut und diesmal permanent in das Gebiet der Krone Aragons reintegriert.

Vor allem die Frage nach einer Identitätsbildung der besprochenen Regionen und ihrer Grenzen bestimmte die anschließende Diskussion. Dabei interessierten die rund 50 Zuhörer:innen die vorgestellten Grenzgänger und deren Loyalität. Judit Majorossy beantwortete diese Frage, indem sie nochmals das Beispiel des Militärs Andreas Baumkircher heranzog. Sie verdeutlichte erneut, dass eine klare Grenze nicht die alltägliche Realität der Zeit widerspiegle und dass daher die sonst problematische Rolle des Überläufers in ihrem Beispiel eine untergeordnete Rolle einnehme. Sandra Schieweck erklärte, dass es auf der iberischen Halbinsel durchaus zu Strafaktionen gegen Vasallen oder lokale Akteure kam. Problematisch wurden diese vor allem, als die Aktionen überhandnahmen und die Balance verloren ging, wie das bei Peter I. von Kastilien der Fall war. Wolf Zöller verdeutlichte, dass es im Falle des Königreichs Jerusalem zu einer sehr ausgeprägten Identitätsbildung gekommen sei, die mit einer starken Selbstverortung zusammenging. Christian Neumann wies auf ein Forschungsdesiderat in seinem Fallbeispiel hin, da es zum mallorquinischen Eigenbewusstsein bisher keine größer angelegte Studie gebe. Zur Frage, welche anderen Quellentypen es neben den bereits genannten Schriftquellen noch in den Fallbeispielen gebe, betonte Wolf Zöller einmal mehr die architektonischen Zeugnisse der Lateiner, die in Jerusalem bis heute zu bestaunen seien. Judit Majorossy machte deutlich, dass vor allem die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Städten materielle Quellen hervorgebracht hätten. Speziell die gehandelten Objekte wie beispielsweise Grabsteine seien eine bisher wenig beachtete Quellengattung. Christian Neumann wies auf Buchillustrationen, heraldische Relikte oder auch die zeitgenössische Architektur wie den Palast der Könige von Mallorca in Perpignan hin.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Julia Burkhardt (München) / Sandra Schieweck (Heidelberg)

Sandra Schieweck (Heidelberg): Grausamer König und legitimer Bastard. Die kastilischen Grenzen in der Frühphase der Trastámara-Dynastie

Judit Majorossy (Wien / Budapest): Divided in War, Connected in Peace? Forms of Urban Interaction along the Austro-Hungarian Border during the Late Middle Ages

Wolf Zöller (Heidelberg): Reform und Rückkehr. Deutung und Legitimation der lateinischen Herrschaftsübernahme im Heiligen Land

Christian Neumann (Rom): Die Reintegration des Königreichs Mallorca im Vergleich